DIE ASTRONOMIE
IM
ALTEN TESTAMENT
VON GIOVANNI SCHIAPARELLI
DIREKTOR A.D. DES BRERA-OBSERVATORIUMS IN MAILAND
ÜBERSETZT
VON
DR. PHIL. WILLY LÜDTKE
HILFSBIBLIOTHEKAR IN KIEL
MIT 6 ABBILDUNGEN IM TEXT
GlESZEN
J. RICKER’SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
(ALFRED TÖPELMANN)
1904
Стр.1
DIE ASTRONOMIE IM ALTEN TESTAMENT
Inhaltverzeichnis.
ERSTES KAPITEL EINLEITUNG
3
DAS VOLK ISRAEL, SEINE GELEHRTEN UND SEINE WISSENSCHAFTLICHEN KENNTNISSE — NATUR UND POESIE —
ALLGEMEINES BILD DER PHYSISCHEN WELT IM BUCHE HIOB — KRITIK DER QUELLEN. ...................................................... 3
ZWEITES KAPITEL. DAS FIRMAMENT, DIE ERDE, DIE ABGRÜNDE...................................................................................... 13
ALLGEMEINE ANORDNUNG DER WELT — DIE ERDSCHEIBE — DIE GRENZEN DER DEN HEBRÄERN BEKANNTEN GEGENDEN
— DIE ANGELN DER ERDE — DER ABGRUND UND DIE SCHEÔL — DAS FIRMAMENT — DIE OBERN UND UNTERN WASSER
— DIE THEORIE VON DEN UNTERIRDISCHEN WASSERN UND DEN QUELLEN, VOM REGEN, SCHNEE UND HAGEL: DIE
WOLKEN — ALLGEMEINE IDEE DER HEBRÄISCHEN KOSMOGRAPHIE. ................................................................................. 13
DRITTES KAPITEL DIE GESTIRNE ......................................................................................................................................... 23
DIE SONNE UND DER MOND — IHR LAUF VON JOSUA UND ANDERN AUF GEHALTEN — ANSPIELUNGEN AUF TOTALE
FINSTERNISSE, WAHRSCHEINLICH IN DEN JAHREN 831 UND 824 V. CHR. — DER STERNENHIMMEL — DAS HEER DES
HIMMELS — DIE PLANETEN: VENUS UND SATURN — KOMETEN UND FEUERKUGELN — FALL VON METEORITEN —
ASTROLOGIE. ....................................................................................................................................................................... 23
VIERTES KAPITEL DIE STERNBILDER................................................................................................................................... 31
SCHWIERIGKEITEN DES GEGENSTANDES — DIE ‘ASCH ODER ‘AJISCH UND IHRE KINDER — DER KESÎL UND DIE KEŠÎLÎM —
DIE KÎMAH — DIE KAMMERN DES SÜDENS — DIE MEZARÎM — DER VERMUTETE DRACHE — DER RAHAB............................. 31
FÜNFTES KAPITEL MAZZAROTH........................................................................................................................................... 41
MAZZARÔTH ODER MAZZALÔTH — VERSCHIEDENE DEUTUNGEN DIESES NAMENS — KANN NICHT DER GROßE BÄR SEIN —
BEZEICHNET WAHRSCHEINLICH DIE BEIDEN PHASEN DER VENUS — VERGLEICHUNG EINES BIBLISCHEN AUSDRUCKES MIT
EINIGEN BABYLONISCHEN DENKMÄLERN — NOCHMALS DAS HEER DES HIMMELS. ............................................................. 41
SECHSTES KAPITEL DER TAG UND SEINE EINTEILUNG........................................................................................................ 49
ANFANG DES TAGES AM ABEND IN EINEM BESTIMMTEN AUGENBLICK DER DÄMMERUNG — ZWISCHEN DEN BEIDEN
ABENDEN — EINTEILUNG DER NACHT UND DES NATÜRLICHEN TAGES — DIE SOGENANNTE SONNENUHR DES AHAS —
KEINE ERWÄHNUNG VON STUNDEN IM ALTEN TESTAMENT; DIE ARAMÄISCHE SCHA‘AH. ................................................... 49
SIEBENTES KAPITEL DIE HEBRÄISCHEN MONATE ............................................................................................................... 55
MONDMONAT — BESTIMMUNG DES NEUMONDS — REIHENFOLGE DER MONATE IN VERSCHIEDENEN EPOCHEN DER
HEBRÄISCHEN GESCHICHTE — PHÖNIZISCHE ODER KANANÄISCHE MONATE — BENENNUNG MIT ZAHLEN VON SALOMO AN
IN GEBRAUCH — ANNAHME DER BABYLONISCHEN MONATE NACH DEM EXIL.55
ACHTES KAPITEL DAS HEBRÄISCHE JAHR............................................................................................................................ 61
VERSCHIEDENER JAHRESANFANG IN VERSCHIEDENEN EPOCHEN — BESTIMMUNG DES PASSAHMONATS — WAS WUßTEN
DIE ALTEN HEBRÄER VON DER DAUER DES JAHRES? — GEBRAUCH DER OKTAETERIS — ASTRONOMISCHE SCHULEN IN DEN
JÜDISCHEN GEMEINDEN BABYLONIENS. .............................................................................................................................. 61
NEUNTES KAPITEL BILDUNG VON PERIODEN DURCH DIE SIEBENZAHL .............................................................................. 68
BABYLONISCHE MONDWOCHE UND FREIE HEBRÄISCHE WOCHE — SABBATRUHE — JAHR DER FREILASSUNG —
ERLAßJAHR — SABBATJAHR — EPOCHEN DES SABBATJAHRS — HEBRÄISCHES JUBELJAHR — FRAGEN BETREFFS SEINES
URSPRUNGS UND GEBRAUCHS. ............................................................................................................................................ 68
1
Стр.2
GIOVANNI SCHIAPARELLI
Verzeichnis der Abbildungen.
Der Himmel, die Erde, die Abgründe nach den Schriftstellern des Alten Testaments. 22
Sternbild der Wurfschaufel nach den Hebräern. 39
Sternbild der Kelle nach den Chinesen. 39
Sin (Mond), Šamaš (Sonne), Ištar (Venus). 46
Sonne, Mond, Venus und das Heer des Himmels auf einem babylonischen Denkmal des 12.
Jahrhunderts v. Chr. 48
Das italienische Original dieses Werkes erschien als „Manuale Hoepli 332“ unter dem Titel:
L'astronomia nell' Antico Testamento, Milano 1903. Die Übersetzung wurde nach einem vom
Verfasser durchgesehenen Exemplare angefertigt, in dem namentlich die zweite Hälfte gegen die
ursprüngliche Fassung stark verändert ist. Zusätze des Übersetzers sind durch [] kenntlich gemacht. Zu
der beigegebenen Tabelle der Sternnamen gab der Artikel Sterne in der 2. Auflage von Herzogs Realencyklopädie
für protestantische Theologie die Anregung; es sind auch die Fragmente der Hexapla und
die Lesarten der Itala berücksichtigt. Die Zahlen 1, 2, 3 bezeichnen, daß die Sternbilder an der
betreffenden Stelle so aufeinander folgen. Welchem hebräischen Worte die Sternnamen der LXX, Itala
und Vulgata gleichzusetzen sind, ist wohl nicht in allen Fällen sicher zu bestimmen.
Die Bibelstellen sowohl aus den kanonischen Büchern als auch aus den Apokryphen und
Pseudepigraphen sind nach der bekannten von Kautzsch herausgegebenen Übersetzung angeführt. In
Fällen, wo ich der abweichenden, von Schiaparelli angenommenen Übersetzung gefolgt bin, ist dies
durch Anwendung der Kursive gekennzeichnet. Bei Kautzsch bedeutet:`` Textkorrek tur, [] Zusatz des
Übersetzers.
Die 3. Auflage von Eberhard Schrader, Die Keilinschriften und das Alte Testament, ist nach den
Bearbeitern Zimmern, bezüglich Winckler, KAT zitiert. Einen kurzen Abriß der babylonischen
Astronomie gab kürzlich Winckler, Himmels- und Weltenbild der Babylonier (2. Aufl. Leipzig 1903)
== Der alte Orient Jg. 3, H. 2/3 (angeführt Winckler AO).
Kiel, den 6. April 1904.
Der Übersetzer.
2
Стр.3
DIE ASTRONOMIE IM ALTEN TESTAMENT
Erstes Kapitel
Einleitung
Das Volk Israel, seine Gelehrten und seine wissenschaftlichen Kenntnisse — Natur und
Poesie — Allgemeines Bild der physischen Welt im Buche Hiob — Kritik der Quellen.
l. Dem hebräischen Volke gewährte das Geschick nicht den Ruhm, die Grundlagen der
Wissenschaften zu schaffen, auch nicht den, die Ausübung der schönen Künste zu hoher Vollendung zu
erheben; beides war das große und unvergängliche Verdienst der Griechen. Seine eigene Anlage und
der Lauf der Ereignisse machten es dafür fähig zu der nicht minder wichtigen Mission, das religiöse
Gefühl zu reinigen und dem Monotheismus die Wege zu bereiten. Israel lebte, litt und er schöpfte sich
ganz in der mühseligen Erfüllung dieser großen Aufgabe. Seine Geschichte, seine Gesetzgebung, seine
Lite ratur waren wesentlich auf dies Ziel gerichtet; Wissenschaft und Kunst kamen für die Hebräer erst
in zweiter Linie in Betracht. Man darf sich darum nicht wundern, daß sie auf dem Felde der
wissenschaftlichen Begriffe und Theorien nur unbedeutende und schwache Spuren hinterlassen haben,
und daß sie in solchen Dingen von ihren Nachbarn am Nil und am Euphrat weit über troffen worden
sind.
Doch man glaube nicht, daß die Hebräer gegen die Dinge der Natur gleichgültig waren, daß sie
ihren so mannigfaltigen und so wunderbaren Schauspielen keine Aufmerksamkeit zu gewandt, und daß
sie nicht versucht haben, sich von ihnen auf irgend eine Weise Rechenschaft zu geben. Im Gegenteil,
überall in den Denkmälern ihrer Literatur offenbart sich ihr tiefes Naturgefühl, ihr der scharfen
Beobachtung der Erscheinungen und der Bewunderung des Schönen und Großartigen in ihnen offener
Geist. Die Deutung, die sie ihnen gaben (soweit es noch möglich ist, sie in den fragmentarischen und
oft un sicheren Hinweisen zu erforschen, die hier und da zufällig in den Büchern des Alten
Testamentes verstreut sind), scheint uns, wie es bei den primitiven Kosmologien immer vorkommt, viel
mehr phantastisch als rationell; doch sie war nicht ein so ausschließliches Werk der Einbildungskraft,
daß sie in willkürliche und zügellose Mythologie ausartete, wie man es bei den Ariern Indiens und bei
den Hellenen der vorhistorischen Zeit beobachtet. Ausschließlich in der Verehrung Jahwes aufgehend,
schrieben die Hebräer das Dasein der Welt ganz seiner Allmacht zu und ließen ihre Veränderungen von
seinem oft veränderlichen Willen abhängen; niemals kam ihnen die Möglichkeit in den Sinn, daß die
Vorgänge in der materiellen Natur sich nach unveränderlich feststehenden Normen vollzögen. Hiermit
war die Grundlage für eine einfache und klare Kosmologie gegeben, die in vollkommenem Einklang
mit den religiösen Vorstellungen stand und geeignet war, Menschen von primitiver Art und einfachem
Geist vollkommen zu befriedigen, die viel Einbildungskraft und Gefühl besaßen, aber wenig daran
gewöhnt waren, die Dinge und die Ursachen der Dinge zu analysieren.
2. Und man glaube auch nicht, daß das Wissen bei den Kindern Israel nicht gebührend in Ehren
gehalten wurde, und daß es keine durch Gelehrsamkeit und höhere Bildung hervorragenden Männer
gab, die darum bei ihren Landsleuten in hoher Achtung standen. Als das ganze Volk David als König
anerkannte, hielten es elf von den zwölf Stämmen für genügend zur Vollziehung dieses Aktes, die
Scharen ihrer Bewaffneten nach Hebron zu senden. Ein einziger, der Stamm Issachar, entsandte an der
Spitze der Truppen als Deputation zweihundert seiner besten und weisesten Bürger. Der Verfasser der
Chronik1 erzählt: „Es kamen von den Nachkommen Issachars, die um die Zeitläufte Bescheid wußten,
sodaß sie wußten, was Israel tun solle, 200 Hauptleute und ihre sämtlichen Stammesgenossen unter
1 1. Chron. 12, 32
3
Стр.4
GIOVANNI SCHIAPARELLI
ihrem Befehl.“ Die Kenntnis der Zeitläufte wird von einigen Auslegern auf die Ordnung des Kalenders
bezogen, die bei den Hebräern wichtig war, um das ziemlich verwickelte Ganze der Feste und der
Opfer zu regeln, und diese Ansicht hat einige Wahrscheinlichkeit für sich.2
Derselbe Verfasser spricht an einer andern Stelle von drei in der Stadt Jabez ansässigen
Familien, die berühmt waren, weil sich in ihnen der Beruf des Schreibers3, was so viel bedeutet als des
Gelehrten, vom Vater auf den Sohn vererbte. Sehr groß war auch noch der Ruhm der Weisen von
Edom, einem dem Volke Israel nahe verwandten Volke, das von ihm lange Zeit als Bruder angesehen
wurde. Der Verfasser des Buches Hiob hat fünf weisen Edomitern seine tiefen Betrachtungen über den
Ursprung des Übels und die allgemeine Gerechtigkeit in den Mund gelegt. Die Weisheit der Edomiter
und ihre Klugheit in wichtigen Entscheidungen waren sprichwörtlich geworden.4
An Salomo werden seine umfangreichen wissenschaftlichen Kenntnisse mit höchstem Lobe
ausgezeichnet. Man liest im ersten Buche der Könige5: „Die Weisheit Salomos war größer, als die
Weisheit aller, die gegen Morgen wohnen, und als alle Weisheit Ägyptens. Und er war weiser als alle
Menschen, [auch weiser] als Ethan, der Esrahiter, und Heman und Chalkol und Darda, die Söhne
Mahols, und war berühmt unter allen Völkern ringsum ..... Und er redete über die Bäume, von der
Ceder auf dem Libanon an bis zum Ysop, der aus der Mauer hervorwächst. Auch redete er über die
[vierfüßigen] Tiere und die Vögel, über das Gewürm und die Fische.“ Hier sieht man, daß auch
weniger berühmte Weise als Salomo, wie Ethan, Heman, Chalkol und Darda, einen Ehrenplatz in dem
Andenken ihrer Landsleute einnahmen.
Im Buche der Weisheit (7, 17 — 21) wird Salomo vorgeführt, wie er gemäß der Volksmeinung
von sich selbst spricht: „Gott hat mir die irrtumslose Kenntnis der Dinge verliehen, sodaß ich das
System der Welt und die Kraft der Elemente kenne,Anfang und Ende und Mitte der Zeiten, Wandel der
Sonnenwenden und Wechsel der Jahreszeiten, den Kreislauf der Jahre und die Stellungen der Gestirne,
die Natur der Tiere, und die gewaltigen Triebe der wilden Tiere, die Gewalt der Geister (== Macht über
die Dämonen) und die Gedanken der Menschen, die Verschiedenheiten der Pflanzen und die
[magischen] Kräfte der Wurzeln. Alles, was es nur [von Dingen] Verborgenes und Offenbares gibt,
erkannte ich; denn die Künstlerin von allem, die Weisheit, lehrte es mich.“
3. Von Anfang an wurde die Betrachtung des Geschaffenen von den Hebräern zu den Ehren der
Poesie erhoben. In keiner der alten Literaturen hat die Natur den Dichtern so reichliche und lautere
Quellen der Begeisterung gespendet. Über diesen Gegenstand hat Alexander von Humboldt einige
schöne und wahre Bemerkungen gemacht.6 ,,Es ist ein charakteristisches Kennzeichen der Naturpoesie
der Hebräer, daß, als Reflex des Monotheismus, sie stets das Ganze des Weltalls in seiner Einheit
umfaßt, sowohl das Erdenleben als die leuchtenden Himmelsräume. Sie weilt seltener bei dem
Einzelnen der Erscheinung, sondern erfreut sich der Anschauung großer Massen. Die Natur wird nicht
geschildert als ein für sich Bestehendes, durch eigene Schönheit Verherrlichtes; dem hebräischen
Sänger erscheint sie immer in Beziehung auf eine höher waltende geistige Macht. Die Natur ist ihm ein
Geschaffenes, Angeordnetes, der lebendige Ausdruck der Allgegenwart Gottes in den Werken der
Sinnenwelt. Deshalb ist die lyrische Dichtung der Hebräer schon ihrem Inhalte nach großartig und von
2 Weniger annehmbar scheint mir die Meinung von Reuß und Gescnius, die in den gelehrten Männern von Issachar
ebensoviele Astrologen sehen; 200 Astrologen für einen einzigen der kleineren Stämme scheint mir 2U viel. Überdies kann
man bezweifeln, daß es in jenem Zeitraum wirkliche Astrologen in Israel gab. Die LXX fassen die Stelle anders auf und
übersetzen:
jedoch die meisten modernen Übersetzer abweichen. Was die Stadt der Bücher (Qirjath Sepher) betrifft, auf die im I.Kapitel
des Richter-Buches angespielt wird, so würde sie mehr ein Zeugnis für die Bildung der Kanaaniter als für die der Israeliten
sein.
4 Obadja 8; Jer. 49,7; Baruch 3,22 — 23.
5 1. Kön. 5, 10 — 13 (nach der Vulgata 4,30-33).
6 Kosmos, Bd. 2, Stuttgart und Tübingen 1847, 45.
4
. S. Reuß in seinem Kommentar und Gesenius, Thesaurus
philologico-criticus linguae hebraicae et chaldaicae Veteris Testamenti, 994.
3 1. Chron. 2,55. Ich halte mich an den Sinn, in dem diese Stelle von den LXX und der Vulgata verstanden ist, von dem
γιν
ω
′
σ
χ
ο
ν
τε
ς
συ
′
ν
εσι
ν ε
ι′
ς
το
υ
′
ς
χ
α
ιρ
ο
υ
′
ς
Стр.5